Im Café sitzend möchte ich mit diesem Artikel anfangen. Mit meiner Geschichte des Nüchternwerdens und den ganzen positiven Überraschungen, die damit einhergingen und fortlaufend einhergehen. Ich habe mir einen Latte Macchiato bestellt (bekennende und stolze Zugehörige der Latte Macchiato Fraktion, versteht sich), und die nette Bedienung meinte es nett mit mir und machte den Witz, ob ich noch einen Whisky Sour dazu haben möchte. Nein, danke! Das kommt immer wieder vor, weil Alkohol ein stiller Begleiter dieser Gesellschaft ist. Es wird nicht hinterfragt, ob es witzig ist oder nicht. Durch jahrelange Gastroerfahrung kenne ich den Humor, und kann mitmachen, wenn ich Lust habe. Aber nicht immer ist die Lust und der Humor dafür da.
Ich hatte meinen letzten Kater am 17. Februar 2016, das ist fast schon acht Jahre her. Die Zeit vergeht so schnell, sie rennt und ich merke gar nicht mehr, was für einen großen Anteil der gute Freund Alkohol in meinem Leben zuvor hatte. Vor einigen Monaten noch hätte ich der Bedienung direkt meine ganze Geschichte erzählt, oder zumindest hätte ich gesagt: „Nein danke, ich trinke nicht.“ Diese paar Worte können direkt sehr provokant sein, eher selten, dass jemand darauf mit einem „Ah, find ich cool!“ reagiert. Warum ich meine Geschichte gerne erzählt habe? Um mein neues Leben zu rechtfertigen. Es braucht Zeit, Frieden damit zu schließen, Frieden mit sich zu schließen, mit der Vergangenheit, mit all den Wake up Calls, die dir sagen: Lass es sein Tessa! Aber es hat gedauert. Gedauert, mich dafür nicht mehr rechtfertigen zu wollen. Nicht jedem die Geschichte aufbinden, einfach mal die Leute im Unwissen lassen, oder auch einfach mal sagen: Nee heute nicht, um mir nervige Diskussionen zu ersparen.
Zur Anfangsphase zählte bei mir auch, alle anderen die trinken, dafür zu verurteilen. Ist halt einfach: Ich habs kapiert, ich weiß was meinem Leben gut tut und ihr wisst es nicht. Für eine kurze Zeit macht es Spaß, auf die Menschen herabzusehen. Aber auf Menschen herabsehen hat noch nie gut funktioniert. Funktioniert auch nicht, wenn Leute auf mich herabschauen, nur weil ich nicht trinke. Es ist witzig, irgendwann hatte ich nach der ersten Reaktion auf mein NüchternSEIN schon raus, was die Menschen für eine Beziehung zum Alkohol haben. Denn die herablassenden Reaktionen kommen eigentlich immer nur von Menschen, die den Spiegel nicht ertragen. Sie ertragen nicht, den Spiegel vorgezeigt zu bekommen, dass es Menschen gibt, die nicht trinken. Weil sie wohl selbst „zuviel“ trinken.
Sollte eigentlich keine große Sache sein, dieses fiese Nüchternsein. Aber in Deutschland ist es eine sehr große Sache. Wieviele Politiker*innen sind Schirmherren- und Frauen von Brauereinen und deren Veranstaltungen? Zu viele. Die Alkohol-Lobby ist mächtig – sehr mächtig! Studien die die Gefahren des Alkohols beweisen, werden negiert, manipuliert, oder bekommen erst gar nicht die nötige Aufmerksamkeit oder die notwendige (finanzielle) Förderung, um durchgeführt zu werden. Mit der „nicht 0,0 Promille Grenze“ im Straßenverkehr wird eine Menge Geld gemacht und der Begriff Alkoholiker*in, wird für die Menschen verwendet, die obdachlos oder sozial schwach sind, die unter der Brücke schlafen, „ihr Leben nicht im Griff haben“. So einfach ist das. Da wird nicht von den Business Menschen gesprochen, von den Politiker*innen, von Student*innen, von Rentner*innen…. Dabei sind sie überall. Und das nicht zu knapp! Wie Daniel Schreiber schreibt, Alkohol ist das Schmieröl der kapitalistischen Gesellschaft. Das Schmieröl, die kollektiv akzeptierte Sucht, die dir erlaubt, nicht zu hinterfragen, welche Leere du eigentlich in dir versuchst, mit diesem Schmieröl zu füllen.
Was ist eigentlich Sucht? Das Wort Sucht kommt von dem Worte Suche. Wie alle Menschen, sind wir doch nur auf der Suche. Auf der Suche nach etwas Besserem, nach einer besseren Version deines Selbst. Ich lese grad das Buch „Siddhartha“ von Hermann Hesse. Siddhartha ist ein junger Mann, der sich genau auf diese Suche begibt. Irgendwann fragt er sich, ob nicht Meditation auch nur eine Betäubung ist, wie der Alkohol. Ein Wegrennen, weg von deinen Ängsten, der Realität, dem (Welt)Schmerz, den du mit dir rumträgst. Und sein guter Freund, der sich gemeinsam mit ihm auf die Suche begeben hat, antwortet: „Wohl findet der Trinker Betäubung, wohl findet er kurz Flucht und Rast, aber er kehrt zurück aus dem Wahn und findet alles beim alten, ist nicht weiser geworden, hat nicht Erkenntnis gesammelt, ist nicht um Stufen höher gestiegen.“
Das Schmieröl ist eine einfache Lösung, vor allem wenn so viele andere es mitmachen, und es als etwas Starkes und Cooles gilt. Dabei wird damit nur das große schwarze Loch in einem gefüllt. Das schwarze Loch in deinem Inneren. Was ist das? Das sind die Ängste, Schmerzen aus der Kindheit, dein Schatten, dem du in die Augen schauen musst, um ein zufriedenes und friedvolles Leben zu führen. Jede*r hat einen Schatten, mal kleiner, mal größer. Und erst als ich den Alkohol nicht mehr genutzt habe, um dieses Loch zu füllen, kam alles hoch. Dazu reicht keine Woche nüchtern sein, dazu reicht auch kein Monat nüchtern sein. Es braucht nach meiner Meinung mindestens sechs Monate, um dieses Gift komplett aus deinen Zellen heraus zu haben. Und dann geht’s los, dann schlägt alles auf dich ein. Es braucht eine Menge Kraft und Mut, sich dem zu stellen. Das anzugehen – hinzuschauen.
Und nein, ich war nicht die Trinkerin, die schon morgens angefangen hat und jeden Tag eine Promillenzahl halten musste. Da reicht es auch, sich zwei Mal die Woche volllaufen zu lassen, oder 3 Abende pro Woche zwei Bier zu trinken. Es ist nunmal eine wunderbare Betäubung. Auch ohne sich komplett aus dem Leben schießen zu müssen. Ich war auch nicht die Trinkerin, die eine Entzugskur brauchte. Ich war die Trinkerin, wie viele in dieser Gesellschaft. Arbeit, Studium, Freund*innen Hobbies… Alles kein Problem, vor allem nicht, wenn der beste Freund Alkohol dabei ist. Ein zuverlässiger Begleiter also. Ich war die Trinkerin, die an sich selbst und an so vielen anderen gebeutelten Seelen gesehen hat, was das Trinken mit dir macht. Nämlich Zerstörung. Langsam aber sicher. Selbstzerstörung, Zerstörung des eigenen Körpers, Zerstörung von Partnerschaft, Zerstörung von Freundschaft – eben die Zerstörung von allem, was einem eigentlich ganz lieb ist. Von alle dem, was mensch braucht um glücklich und erfüllt zu sein. Und wenn du das das erstmal begriffen hast, und auch Leute kennst und liebst, die schon richtig tief gefallen sind, sogar viel tiefer als du selbst, dann ziehst du die Notbremse. Weil mir mein Leben und mein Körper zu viel Wert ist, als dass ich es zerstören lasse.
Und dann ist sie da, die Klarheit, die körperliche und die geistige. Plötzlich arbeitet dein Gehirn viel schneller, du bist aufmerksamer, achtsamer mit dir selbst und deinem Umfeld. Dir fallen Sachen auf, die dir früher nie aufgefallen sind. Zum Beispiel die schöne Architektur, des Gebäudes, an dem du jeden Tag zehn Mal vorbeiläufst. Du spürst plötzlich deinen Körper, erkennst früher, wann du Ruhe brauchst. Nimmst ab, ohne was dafür zu tun. Brauchst keine Medikamente mehr. Ich lernte einen Rentner kennen, der seit zwei Jahren nicht mehr trank. Zuvor hatte er viele Medikamente gebraucht: Blutdruck, Cholesterin, und all so Zeug, was man angeblich mit dem Alter so bekommt. Seit seinem Nüchternsein brauchte er kein einziges Medikament mehr, weil sein Körper sich plötzlich wieder von ganz alleine regenerieren kann.
Du sparst Geld und Zeit, und eine Menge Unwohlsein, was durch das Katergefühl ausgelöst wird. Es ist zum Beispiel immer wieder eine kleine aber feine Genugtuung für mich, nach einer Party morgens aufzustehen und fit zu sein, während die anderen noch bis Nachmittags um drei regungslos im Bett liegen, weil sie sich vor Katersein nicht bewegen können. Bis die aufgestanden sind, habe ich schon wohlig gefrühstückt, war im Wald spazieren und habe mit einer Freundin telefoniert, die ich lange nicht gesehen und gehört habe.
Nur, was macht man, wenn das schwarze Loch auf Dauer nicht mehr mit Alkohol gefüllt werden kann? Ich hatte nie mehr das Verlangen, es mit Alkohol zu füllen. Aber gefüllt werden muss es trotzdem. Das Loch will gefüllt werden, mit einem Zusichselbstkommen. Was für mich in dem Fall Yoga ist, jeden Abend. Ich schreibe wieder Tagebuch, ich habe mich auf einen weiteren langen Weg begeben, meine ganz eigene Kreativität wiederzufinden: Das ist für mich Sport, in der Natur sein, Malen, Schreiben, und tanzen! Viele Dinge, die in der Kindheit und Jugend noch selbstverständlich waren. Und irgendwann hat man es dann ersetzt, durch das angesagte „Party machen“. Das innere Künstlerinkind will gefüttert werden, und nicht mit Substanzen die dich kaputt machen, sondern mit Dingen, die dich wieder lebendig machen. Und das sind die Dinge, die dich glücklich machen, die dir gut tun, die dir das Gefühl geben Ganz zu sein, erfüllt zu sein. Erfüllt, das Loch gefüllt, mit Selbstliebe anstatt mit Alkohol.
Es ist nicht leicht, das aufrecht zu erhalten, nicht wieder in die Selbstsabotage zu verfallen. Ein Klassiker der Selbstsabotage kann zum Beispiel die Arbeitssucht sein. Die eine Sucht mit der anderen Sucht einfach ausgetauscht. Eine tricky Sache, in unserer Leistungsgesellschaft. Weil es ja, wie auch mit dem Trinken, für die Gesellschaft etwas ganz Hervorragendes ist, wenn man viel arbeitet. Manche nennen es auch Erfolg. Gesellschaftliche Anerkennung ohne Verluste – auf den ersten Blick zumindest. Nur, dass man in dem Fall auf Dauer auch wieder sich selbst und die dich Liebenden verliert und das nur, weil es ist cool, erst um 20 Uhr aus dem Start-Up Büro zu stapfen. Eine Start-Up-Welt, die das harterkämpfte Arbeitsrecht mit Füßen tritt. Ein Arbeitsrecht, das auch für mehr Selbstfürsorge sorgen könnte, wenn man denn wöllte.
Tessa Loniki